Cover
Titel
Policing Prostitution. Regulating the Lower Classes in Late Imperial Russia


Autor(en)
Hearne, Siobhán
Erschienen
Anzahl Seiten
212 S.
Preis
£ 75.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christiane Brenner, Collegium Carolinum

In „Policing Prostitution“ geht es um die Welt der Prostitution im Russland der letzten Jahrzehnte vor der Revolution von 1917. Mit ihrem Buch schließt Siobhán Hearne an historische Arbeiten an, die das Ziel verfolgen, Frauen in Prostitution als handelnde Personen mit eigener Agency sichtbar zu machen. Allerdings geht sie dabei radikaler vor als etwa Julia Laite, deren „Common Prostitutes and Ordinary Citizens“, in dieser Hinsicht richtungweisend war oder zuletzt Nancy Wingfield in ihrer Studie über Prostitution in der Habsburgermonarchie. Hearne setzt unmittelbar bei den Menschen an, die in Prostitution involviert waren. Ihre klar strukturierte Darstellung beginnt mit den Frauen, die Sex zum Kauf anboten, führt über deren Kunden und die Bordellbetreiberinnen als „extra layer of policing“ (S. 131) zur städtischen Polizei und zu Mitarbeiter:innen des Gesundheitswesens. Ein weiteres Kapitel gilt schließlich den Vermietern, Hausbesitzern und Nachbarn von Prostituierten und dabei insbesondere den Bemühungen der einen, Prostitution aus bestimmten städtischen Quartieren zu verbannen und den Strategien, mit denen die anderen räumliche Segregationsbestrebungen unterliefen.

Konsequent „von unten“ aufgezogen, rückt Hearnes Buch nah an das Leben von Frauen und Männern heran, die mit Prostitution zu tun hatten. Das heißt: so nah, wie es die Quellen eben erlauben. Siobhán Hearne hat in Archiven in Russland, den drei baltischen Staaten, der Ukraine und Belarus geforscht. Das Bild, das sie auf der Grundlage ihrer oft – notwendigerweise – bruchstückhaften Funde zusammenpuzzelt, ist folglich im Nordwesten des russischen Imperiums angesiedelt. Es beruht auf Schriftstücken, die aus der Überwachung von Prostitution hervorgingen, wie Verzeichnissen von registrierten Prostituierten, Berichten über nächtliche Polizeirazzien in Hotels, Teestuben und Bahnhöfen, sowie Beschwerdebriefen und Denunziationsschreiben. Als Selbstzeugnisse liest Hearne Bittschreiben von Frauen, die in eigener Sache bei der Polizei vorstellig wurden. Fotografien wie die Bilder von registrierten Prostituierten aus dem Estnischen Nationalarchiv, die auf dem Buchumschlag zu sehen sind, und Baupläne ergänzen die schriftlichen Quellen um eine wichtige visuelle Komponente.

Wie es bei Forschungen zu Prostitution fast immer der Fall ist, hat auch Hearne mehr Daten zu Frauen als zu Männern gefunden. Dieses Ungleichgewicht ist eine Folge des generellen Genderbias im Umgang mit Prostitution. Polizeiquellen und Briefe liefern Informationen über soziale und ethnische Hintergründe, typische Migrations- und Arbeitswege von Frauen, die ihren Unterhalt (zeitweilig) über sexuelle Dienste bestritten. Indessen bleibt die Herkunft der Männer, die als Kunden, Polizisten und als Autoren diverser Korrespondenzen mit Behörden ins Bild kommen, überwiegend im Dunkeln. Mit Sicherheit gehört jedoch der weitaus größte Teil der Akteur:innen, die in Hearnes Buch auftreten, der kontinuierlich wachsenden Unterschicht des russischen Reiches an.

Dieser Unterschicht begegneten die Herrschenden mit einer Mischung aus Paternalismus, Misstrauen und einem bemerkenswerten Desinteresse. Für die Regulierung von Prostitution in der Provinz des späten Zarenreichs bedeutete dies zweierlei: Zum einen eine gewaltige Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität. So unterschiedlich sich die Praktiken der einzelnen Städte darstellen, mit der Umsetzung von Gesetzen und Vorschriften haperte es eigentlich überall, und das auch, weil Mittel und Personal bitter fehlten. Zum anderen, so Hearne, seien die sozialen Beziehungen in den Städten des nordwestlichen Russischen Reiches von der gleichen hierarchischen und paternalistischen Kultur durchdrungen gewesen, wie das Zentrum. Und in gewisser Weise hätten Bürger:innen in der Kommunikation mit den Repräsentanten staatlicher Autorität vor Ort diese Kultur und die ihr zugrundeliegenden sozialen, ethnischen und geschlechtsbezogenen Stereotypen selbst immer wieder bestätigt. So zum Beispiel, wenn Frauen sich mit scharfer Abgrenzung gegenüber unmoralischen „Anderen“ gegen die Registrierung als Prostituierte zur Wehr setzten, oder ihre Ehre mithilfe sozial überlegener Männer zu verteidigen suchten.

Hearne präsentiert Frauen als aktive Gestalterinnen ihres Lebens, in dem Prostitution ein Zubrot, eine Übergangslösung, eine Wahl zwischen mehreren oft deprimierenden Alternativen oder eine freie Entscheidung darstellen konnte. Statistiken, in denen die Gründe aufgezeichnet wurden, aus denen Frauen die Prostitution aufgaben, verdeutlichen Entscheidungsspielräume ebenso wie die Tatsache, dass Sexarbeit nicht das ganze Leben einer Frau bestimmen musste. Doch auch wenn sie aus ihren Quellen Beispiele von Frauen herausgreift, die selbstbewusst mit der Polizei korrespondierten oder diese geschickt austricksten, lässt Hearne keinen Zweifel daran, dass Frauen nach Regeln spielen mussten, die andere gemacht hatten, und die jederzeit zu ihren Ungunsten verändert werden konnten.

Wie selbstverständlich Männern dieses Machtgefälle zwischen den Geschlechtern erschien und wie sie es für ihre Interessen nutzten, illustriert das Kapitel über die Kunden von Prostitution: Männer zeigten angeblich „leichte Frauen“ bei der Polizei an, denunzierten illegale Prostituierte und meldeten tatsächlich oder vermeintlich mit Geschlechtskrankheiten infizierte Frauen. Manche Männer verfassten diese Schreiben in dem Gestus des besorgten Bürgers, die Bevölkerung gegen die möglichen Gefahren schützen zu wollen, die von diesen Frauen ausgehe. Andere schrieben sie aus der Position von Kunden, die um die Leistung staatlich überwachten gesundheitlich unbedenklichen Sexes betrogen worden waren. Dass die Autoren solcher Briefe in vielen Fällen selbst in das angezeigte illegale Geschäft involviert gewesen waren, spielte für sie selbst ebenso wenig eine Rolle wie für die Polizei.

Für die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten wurden grundsätzlich als moralisch zweifelhaft angesehene Frauen aus unteren Schichten verantwortlich gemacht. Es bedurfte extremer Situationen, um die Überwachung und Kontrolle auch auf die Körper von Männern auszudehnen. Solche Ausnahmen bildeten etwa der Russisch-Japanische Krieg (1904/05) und der Erste Weltkrieg, in denen es die Leistungsfähigkeit des Militärs zu erhalten galt. Allerdings, so Hearne, erweiterte sich auch dann der Kreis der Kontrollwürdigen nur um Männer aus niedrigen sozialen Schichten, deren kulturelles Niveau und Begriff von Hygiene ohnehin als defizitär galten. In der Vorstellungswelt der „Eliten“ war das Sexleben der Unterschicht mit Angst und Abscheu besetzt.

Vieles von dem, was Siobhán Hearne am Beispiel Russlands im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert schildert, klingt für Leser:innen, die sich mit der Geschichte der Prostitution in anderen Teilen Europas befasst haben, vertraut. In weiten Teilen Europas avancierte Prostitution im Zuge der gewaltigen gesellschaftlichen Veränderungen, die die Industrialisierung auslöste, zum zentralen Motiv moralischer Panik. Dass diese Panik sich vorranging gegen Frauen und sozial nach „unten“ richtete, mit nationalen und antisemitischen Vorurteilen vermengte, war ebenfalls alles andere als ein russisches Spezifikum. Nicht zuletzt lag die russische Prostitutionspolitik insgesamt auf europäischer Linie. Über die Regulierung sollten die Anbieterinnen von käuflichem Sex erfasst und unter Kontrolle gehalten werden, das „nötige Übel“ Prostitution mithilfe der Bordellbetreiberinnen, Polizei und Gesundheitspolizei möglichst unsichtbar bleiben und Infektionsquellen rasch „beseitigt“ werden können.

Hearne verweist zwar auf die europäischen Parallelen und die übernationalen Zusammenhänge wie die wachsenden abolitionistischen, das heißt für die völlige Abschaffung von Prostitution kämpfenden Bewegungen. Wenn sie der zaristischen Regulations-Politik Scheitern auf ganzer Linie attestiert, geht es ihr aber weder um die russische Politik, noch um den europäischen Kontext. Ihr Hauptinteresse besteht darin zu zeigen, was die Menschen an der Peripherie aus den Vorgaben und dem Missmanagement des Zentrums machten. Der große Gewinn, den diese akteursbezogene Perspektive bringt, ist das Verständnis der großen Vielfalt örtlicher Verhältnisse aus sich selbst heraus. St. Petersburg war weit weg und Unterstützung von dort stand, wie viele Quellen beweisen, nicht zu erwarten. Das galt für Archangelsk ebenso wie für Riga, und doch entwickelte Archangelsk einen bemerkenswert pragmatischen Umgang mit Prostitution, die gewissermaßen als Saisonarbeit begriffen wurde. Riga hingegen tat sich durch ein besonders repressives Regime gegen Frauen hervor, die in den Augen von irgendjemanden „liederlich“ erschienen.

Der entschiedene Fokus auf die Provinz führt aber auch dazu, dass bei der Lektüre die Hauptstadt St. Petersburg in weite Ferne rückt. Anders formuliert: Sich nicht auf den Staat zu konzentrieren, hätte nicht mit dem Verzicht auf einen kurzen Überblick über den gesetzlichen Rahmen einhergehen müssen. So ist die Orientierung im großen Ganzen, zumindest für Leser und Leserinnen, die keine Russlandkenner:innen sind, mitunter schwer. Dass die Regierung die Regulierung von Prostitution offenbar mehrfach nachzubessern suchte, kommt eher en passant vor. Erst im letzten Drittel des Textes, der locker chronologisch angelegt ist, rücken mit dem neuen Jahrhundert auch der zunehmende Druck der Regulationsgegner und seine durchaus spürbaren Effekte auf die zaristische Prostitutionspolitik ins Bild. Das Schlusskapitel gibt dann einen Ausblick auf die chaotische Entwicklung, die mit der Revolution von 1917 folgte, die der Regulierung ein Ende setzte.

Siobhán Hearne handelt ihr Thema auf knapp 200 Seiten mit bewundernswerter Souveränität ab. Aus ebenso gewaltigen wie unvollständigen Quellenbeständen hat sie ein lebendiges Bild des Alltags von Prostitution in der Provinz des vorrevolutionären Russlands erstellt, immer mit dem Blick auf die Akteurinnen und Akteure. Trotz der vielen Geschichten, die das Buch enthält, verliert es sich niemals im Anekdotischen. Vielmehr zeigt Hearne überzeugend, wie sich die imperiale Herrschaftskultur mit ihren geschlechts- und klassenspezifischen sowie ethnischen Hierarchien in der Lebensrealität der Menschen fortsetzte. Und wie Menschen – hier Frauen, die ihr Geld mit Sex verdienten – die Regeln dieses Systems bedienten, nutzten und unterliefen um zu überleben oder auch, um ein gutes Leben zu führen. Das ist eine faszinierende Lektüre, die, ohne dies explizit zu machen, viele Impulse zur Reflexion über die Gegenwart gibt.

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